Die Wirklichkeit

Als Ingenieur betrachte ich die Welt auf eine besondere Art und Weise, was z.B. in der nachfolgenden Anekdote deutlich wird:

 

Während der Optimist sagt: "Das Glas ist halb voll."

 

Erwidert der Pessimist: "Das Glas ist halb leer."

 

Und der Ingenieur stellt treffend fest: "Das Glas ist doppelt so hoch wie es sein müsste."

 

Aber Spaß bei Seite. Ich glaube, dass das, was Ingenieure tatsächlich auszeichnet, ihre Stärke in Systemen zu denken ist. Dabei analysieren wir ein bestehendes Problem und versuchen anschließend ein System zu entwickeln, das am besten auf das Problem passt und es so löst, dass das Problem zukünftig nicht mehr auftreten kann.

 

Jetzt kann es natürlich passieren, dass zwei unterschiedliche Ingenieure, mit demselben technischen Hintergrund, zu zwei unterschiedlichen Systemen kommen wie man ein und dasselbe Problem lösen kann. Und beide behaupten von sich, dass sie das jeweils bessere System entwickelt haben.

 

Diesen Gedanken greift die US-amerikanische Umweltwissenschaftlerin Donella Meadows in ihrem Bestseller Thinking in Systems auf und liefert uns sowohl die Begründung für den Meinungsunterschied als auch einen Tipp für unser weiteres Wirken:

 

"Remember, always, that everything you know, and everything everyone knows, is only a model. Get your model out there where it can be viewed. Invite others to challenge your assumptions and add their own."

 

Das Charmante an diesem Gedanken ist, dass er sich sowohl auf private als auch auf berufliche Dinge übertragen lässt. Im beruflichen Kontext musste ich z.B. sofort an das Beispiel Uber denken. Die Gründer des Vermittlungsdienstes für Personenbeförderung, Travis Kalanick und Garrett Camp, betrachteten das Geschäftsmodell von Taxen in Manhattan (New York) durch ein gänzlich anderes Modell als es die etablierten Taxiunternehmen taten.

 

Travis und Garrett erkannten unter anderem, dass Taxen den Großteil der Zeit eigentlich nur rumstehen. Das ist sehr ineffizient, da dabei kein Geld verdient wird. Damit sich das Geschäft jedoch trotzdem lohnt, wird auch die Leerlaufzeit der Taxen auf die Beförderungsgebühr draufgeschlagen. Die Fahrgäste bezahlen also für etwas, wovon sie gar keinen Nutzen haben.

 

Auf der anderen Seite sahen sie auch, dass es Stoßzeiten gibt, in denen es fast unmöglich ist, ein Taxi in Manhattan zu bekommen. Wenn man jedoch den potenziellen Fahrgästen eine Fahrgelegenheit anbieten könnte, dann könnte man während dieser Stoßzeiten das Vielfache des normalen Preises verlangen. Diese Tatsache kombinierten sie dann mit der Erkenntnis, dass es Menschen mit einem Auto gibt, die sich gerne etwas dazuverdienen möchten. Mit anderen Worten, da gibt es Assets, die nur darauf warten gehoben zu werden. Naja, und der Rest ist Geschichte.

 

Das Einzige, was die Taxiunternehmen Uber entgegenzusetzen hatten, waren Demonstrationen seitens der Taxifahrer, Gejammer darüber wie unfair das Geschäftsmodell von Uber sei und das Unternehmen zu verklagen. Anstatt ihre Branche durch das Modell der Uber-Gründer zu betrachten.

 

Die Wirklichkeit ist eben eine Frage des Denk-Modells, durch das wir die Wirklichkeit betrachten. Dies zu wissen, kann uns dabei helfen andere bessere zu verstehen. Es kann uns dabei unterstützen unsere Ideen effektiver zu kommunizieren. Und, wenn unser Modell das überlegenere ist, dann können wir damit sogar die Wirklichkeit von anderen auf den Kopf stellen.

 

Was auch auf die Wortherkunft des Wortes "Wirklichkeit" einzahlt. Es leitet sich nämlich von dem lateinischen Wort "actualitas" ab. Darin steckt sowohl die Handlung "actus" als auch der Bezug zur zeitlichen Nähe der Gegenwart. Daneben bringt der sprachliche Gebrauch das Wort mit dem aristotelischen Begriff "energeia" in Zusammenhang, das wiederum auf "ergon" (Werk) zurückzuführen ist. Es geht also nicht nur darum zu erkennen, sondern auch zu handeln.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0